"Veränderungen sind möglich"

Austausch

Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund im Interview

Sie sind in Thüringen aufgewachsen, wie hat das Bild von Kirche Sie geprägt?

In jungen Jahren habe ich sehen können, wie Kirchen hier im Osten Schutzraum waren. Wie sie mutig den Menschen, die sich während der friedlichen Revolution gegen die Diktatur stemmten, Dach boten. Sehr lebendig ist mir die Erinnerung an einen der Abende 1989 auf dem Nicolaiberg in Gera mit Kerzen und vielen vielen Menschen, die friedlich demonstrierten. Das hat mich geprägt. Aus heutiger Sicht steht fest: Die SED hat nicht ganze Arbeit geleistet. Zwar wurden Christinnen und Christen unterdrückt, in der DDR benachteiligt, wurden zum Austritt überredet. Massiv sogar. Aber es waren gerade die evangelischen Kirchen, die dazu beigetragen haben, dass sich unter ihrem Dach in den 80er Jahren Umwelt- und Friedensgruppen treffen konnten und gegen das System aufbegehrten. Es lag in den Händen dieser mutigen Menschen und ermöglichte, dass wir heute in Demokratie und in Freiheit leben dürfen. Wenn man mutig sein will, muss man Anlauf nehmen. Das hat diese Zeit ausgemacht. Frieden und Gerechtigkeit kann es nur in Demokratien geben. Diese Kraft und dieser Mut stecken auch in der Kirchentagsbewegung.

 

1999 war Ihr erster Kirchentag in Stuttgart. Was macht für Sie den Kirchentag besonders?

Kirchentage sind das größte zivilgesellschaftliche Ereignis der Bundesrepublik, Jung und Alt, Groß und Klein, Christen und Menschen vieler verschiedener Religionen begegnen sich in Respekt, da entsteht ein Dialog, das macht Kirchentag besonders. Kirchentag ist eine Ideen-Schmiede, es geht um neue Perspektiven und Gemeinsamkeit. Kirchentag ist ein Ort, wo Menschen respektvoll miteinander ins Gespräch kommen, die sich sonst nie begegnet wären. Auch das macht den Kirchentag einzigartig. Die Bewegung ist für mich eine relevante öffentliche Stimme, die nicht nur alle zwei Jahre laut wird, sondern stetig etwas in Gang bringt. Kirchentag spiegelt unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, ist Zeitansage und Widerstand zugleich. Auch in Hannover werden wir die Frage von Freiheit und Demokratie in den Fokus rücken. Was hält unsere Gesellschaft wirklich im Innersten zusammen? Was kann unser gemeinsamer Kompass sein? Und was kann Kirchentag dazu beitragen?

 

Hat der Blick hinter die Kulissen ihren Blick auf den Kirchentag verändert?

Absolut! Was man von außen sieht, sind farbige Schals und viel Gemeinschaft, viel Lachen, gemeinsames Teilen entweder wenn beim Segen zur Nacht oder wenn man das Essen teilt. Alle sind gleich, auch eine Ministerpräsidentin oder ein Bundeskanzler. Was viel deutlicher wird, wenn man in die Organisation eingebunden ist, dass Kirchentag ohne Helfende und ohne Ehrenamt nicht funktionieren würde. Der Kirchentag lebt davon, dass ganz viele Menschen ihre Zeit der Kirchentagsbewegung schenken, überall mit anpacken, damit alles reibungslos klappt. Die Helfenden sind mit Herz, Augen und Ohren dabei. Das kenne ich in dieser Form nur vom Kirchentag und das ist unglaublich inspirierend. Es entstehen wunderbare Begegnungen und Freundschaften, man trifft sich auch zwischendurch und freut sich gemeinsam auf das nächste Erlebnis, die Helferinnen und Helfer sind das Herzstück des Kirchentages.

 

Als Präsidentin des 39. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hannover 2025 haben Sie ein besonderes Amt übernommen, was reizt Sie an der Aufgabe, worauf freuen Sie sich?

In dieser Zeit, wo gefühlt alles auseinandertreibt, kann der Kirchentag Halt geben. Wir leben in einer friedlosen und zerrissenen Welt. Wir leben in einer Welt, in der die Klimakrise voranschreitet und jeden Tag Arten unwiederbringlich von unserer Erde verschwinden. Es ist eine herausfordernde Zeit, wo wir mit unserer Haltung gefragt sind. Einerseits um jene zu ermutigen, die sich gegen die Krisen in den Wind stellen. Andererseits, und das leider immer öfter, um jene zu ermutigen, die klare Grenzen ziehen müssen, zum Beispiel wenn es um Antisemitismus oder Rassismus geht. Kurz: Wenn es den Kirchentag nicht geben würde, müsste man ihn genau heute erfinden. Es geht dabei nicht um fertige Antworten oder die „absolute Wahrheit“. Es geht darum, miteinander zu sprechen, fair und offen. Und wenn nötig, rote Linien zu ziehen. Denn, da hat Hartmut Rosa völlig recht: „Demokratie im Aggressionsmodus funktioniert nicht.“ Als Präsidentin Teil dieser großen Bewegung zu sein, ist ein Geschenk und eines der schönsten Ehrenämter überhaupt. Wir gewinnen alle, wenn wir sprechfähig bleiben. Und wenn wir zeigen: Da ist immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind es zu sehen. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.

Im Oktober wurde die Losung für den Kirchentag in Hannover beschlossen, was verbinden Sie mit der Losung im Hinblick auf den Kirchentag 2025, aber auch persönlich?

Inmitten von Verzagtheit und Angst, die wir in unserer Gesellschaft spüren, könnte ich mir keine bessere Losung vorstellen. Kurz und prägnant passt sie genau in diese Zeit. Wir können als Christenmenschen mutig sein, Dinge anzustoßen und Probleme zu benennen, die andere kritisch sehen oder nur zögerlich angehen. Wir können dies in der Gewissheit, dass Gott mit uns ist. Das schenkt Kraft und Vertrauen. Ich habe diesen Mut in den 1980er Jahren unter dem Dach der Kirchen erlebt, das ist nicht vorbei, dieser Mut ist nach wie vor verfügbar, wir müssen ihn nur neu entfachen. Ich möchte mit der Losung die Einladung aussprechen, sich an diesen Mut zu erinnern. Mut-Botschafterin und -Botschafter zu werden. Ich möchte Mut machen, der jungen Generation zuzurufen: Wir sehen Euch und wir finden gemeinsam einen Weg aus der Klimakrise. In Stärke sich einander zuzuwenden, gemeinsam als Christinnen und Christen mit Kopf, Herz und Hand sich auf den Weg zu machen. Klug voranzugehen und angesichts der Herausforderungen unserer Zeit, Verantwortung zu übernehmen und Neues zu wagen, das ist mir wichtig. Ganz nach dem Lied von Klaus-Peter Hertzsch „Vertraut den neuen Wegen“. Veränderungen sind möglich und genau darum geht es in der Losung, die wir mit nach Hannover nehmen.

Mit Blick auf Hannover, worauf dürfen sich die Gäste freuen?

2025 ist Kirchentag zu Gast in einer Stadt der Vielfalt, das Haus der Religionen öffnet seine Türen und wir werden einen Kirchentag feiern in einer Stadt, die zu den Vorreitern im Klimaschutz gehört. Das zeigt, der Kirchentag ist hier genau richtig. Besucher:innen dürfen sich eine weltoffene, tolerante Stadt freuen, auf großartige Begegnungen, spannende Diskussionen, Gemeinschaftserleben, Glaubensfeiern, die stark machen und ermutigen, gemeinsames Singen und viel Offenheit für neue Erfahrungen. Ich habe mit Jugendlichen und Pfadinder:innen aus Hannover gesprochen, um zu fragen: Was sind Eure Themen? Zurecht geben sie eine Frage an uns Ältere zurück: Habt Ihr genug getan in Sachen Klimaschutz und Bewahrung der Schöpfung? Diesen Jugendlichen will ich viel Raum in Hannover geben, ihre Haltung produktiv zu adressieren, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, Kräfte zu bündeln und dann die nächsten Schritte zu gehen. Das finde ich eine sehr spannende Aufgabe für uns alle in Hannover. Neu beim Kirchentag wird sein, dass wir erstmals ein bleibendes Projekt hinterlassen. Wir werden sozusagen während des Kirchentages etwas erschaffen und gemeinsam in die Stadt tragen, dass auch noch nach dem Kirchentag in Hannover sichtbar bleibt.

Was sind die großen Themen beim Kirchentag 2025?

Der Kirchentag findet 2025 über den 1. Mai hinweg statt, dem Tag der Arbeit. Wir führen daher Gespräche mit Gewerkschaften und werden die Themen Arbeit und Arbeitszeitmodelle verstärkt aufgreifen. Wir werden uns mit den Fragen der Zukunft von Arbeit beschäftigen, zum Beispiel wie Künstliche Intelligenz unser Arbeitsleben beeinflusst. Auch neue Glaubensformate, wie der KI-Gottesdienst in Nürnberg, werden eine Rolle spielen. Das zweite große Thema rückt Hannover als Stadt der Vielfalt in den Mittelpunkt: Menschen aus über 180 Ländern leben in der Landeshauptstadt, Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungswelten, Identitäten und Fähigkeiten – wie kann ein Zusammenleben in Vielfalt und gegenseitigem Respekt gelingen und was braucht es dafür? Im Hinblick auf die aktuellen entsetzlichen Kriege und Terrorangriffe, wird es weiterhin um die Frage nach Frieden gehen. Und natürlich ist mir die Klimafrage eine Herzensangelegenheit. Wir streben in Hannover erstmalig einen klimaneutralen Kirchentag an. Ich wünsche mir, dass wir sagen können: Wir haben das hinbekommen!

Das Gespräch führte Britta Jagusch für "Bewegend", das Journal der Freundinnen und Freunde des Kirchentages

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