Die Geschichte des Kirchentages

Event & Bewegung

Als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus und den fehlenden Widerstand der Amtskirche in dieser Zeit wurde der Deutsche Evangelische Kirchentag 1949 in seiner jetzigen Form gegründet.

Als evangelische Laienbewegung sollte er das Gegenüber der verfassten Kirche bilden und Schnittstelle sein zwischen Kirche und Welt.

Die Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchentages nach dem 2. Weltkrieg war vor allem das Werk und die Initiative seines ersten Präsidenten, Reinold von Thadden-Trieglaff. Als ehemaliger Präses der pommerschen Bekenntnissynode flossen seine Erfahrungen im Kirchenkampf und in der Kriegsgefangenschaft in die Gründung des Kirchentages ein. Dazu kamen seine engen Beziehungen zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), der 1948 in Amsterdam gegründet wurde.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag war hier auch Beispiel und Lernfeld für ein neues Miteinander von Menschen, die sich in christlicher Verantwortung in der Welt engagieren, für eine neue Art Kirche zu sein – weltweit. Kirchentag als kritisches Gegenüber zur verfassten Kirche sollte den Laien mehr Stimme und Gewicht geben, einen Begegnungsraum bieten und ein Forum sein für politische Themen, Demokratiebildung und geistliche Herausforderungen der Zeit.

 

1949 - 1961: Gesamtdeutsche Wirkung

Zwischen 1949 und dem Bau der Mauer kurz nach dem Berliner Kirchentag 1961 wurde der Deutsche Evangelische Kirchentag in der Öffentlichkeit vor allem als von der gesamtdeutschen Frage geprägte Großveranstaltung wahrgenommen. Höhepunkt war hier die Schlussversammlung in Leipzig 1954 mit 650.000 Menschen, die bis heute die größte protestantische Versammlung in Deutschland darstellt.

Der Kirchentag trat der Welt gegenüber und versuchte, Hoffnung und Antwort zu geben. Die Spannungen in der deutsch-deutschen Politik führten schon 1957 dazu, dass der Erfurter Kirchentag wegen unannehmbarer Forderungen der DDR-Regierung abgesagt wurde.

In dieser ersten Phase gewinnt der Deutsche Evangelische Kirchentag seine Form als Institution. Seine Zentrale wird in Fulda angesiedelt. Für jeden Kirchentag wird ein eigenständiger Durchführungsverein gegründet. Seit 1957 findet er alternierend zum Deutschen Katholikentag alle zwei Jahre in den ungeraden Jahren statt.

1963 - 1989: Kirchentag in zwei deutschen Staaten

Nach 1961 fand der Kirchentag in beiden deutschen Staaten in unterschiedlichen Formen statt. In der DDR entwickelten sich regionale Kirchentage, die stärker Kongresscharakter hatten. Höhepunkte waren hier die sieben Kirchentage 1983 zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Ansatzweise konnte sich hier eine Gegenkultur zur offiziellen SED-Kultur entwickeln, die dann später nicht unwesentlich zur sogenannten friedlichen Revolution 1989 beitrug.

In der BRD markierte die Dortmunder Losung 1963 einen Wechsel der Kirchentagskultur: „Mit Konflikten leben“. Nun stand die pluralistische Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Kirchenreform kam auf die Tagesordnung. Diskussionen überwogen Vorträge. Der Kirchentag wird zum Forum des Protestantismus und steht in Stuttgart 1969 mitten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1968er-Jahre.

Der Kirchentag droht zu sterben und versammelt nach der Pause durch das Ökumenische Pfingsttreffen in Düsseldorf 1973 nur noch 7.500 Dauerteilnehmende. Durch innere Strukturreformen, die mit dem Markt der Möglichkeiten und anderen kommunikativen Veranstaltungen wie z.B. dem Feierabendmahl die Partizipation der Teilnehmenden zunehmend ins Zentrum rücken, gelingt es in den 1980er-Jahren, wieder konstant 100.000 Dauerteilnehmende zu versammeln. Der Deutsche Evangelische Kirchentag wird so zu einem wichtigen Multiplikator der Friedensbewegung sowie der weltweiten Ökumene. Afrika und Lateinamerika rücken in das Blickfeld, ebenso wie Mittel- und Osteuropa.

 

Seit 1989: Kirchentag als Event(uelle) Kirche

Nach der Wiedervereinigung vereinigen sich auch beide deutschen Kirchentagsbewegungen, was sich 1991 in einer neuen Ordnung niederschlägt. Der Kirchentag wird zunehmend ein Event und repräsentiert den Protestantismus als erlebnisorientierte und erfahrungsbezogene Form von „Kirche auf Zeit“. Konnte in den 1980er-Jahren empirisch plausibilisiert werden, dass die Teilnehmenden fromm und politisch sind und sich diese Verbindung auch wünschen, kommt in Umfragen nun verstärkt auch der Faktor „Erlebnis und Gemeinschaftserleben“ zur Geltung.

Religiöses Bekenntnis, politische Bildung und Event schließen sich nicht aus, sondern sind in erfolgreicher Weise integriert. Hochrangige Politiker:innen sind auf Kirchentagen ebenso präsent wie Basisgruppen und wirken Milieu-Verengung entgegen. Unterschiedliche Präsident:innen prägen als Einzelpersönlichkeiten den Kirchentag mit.

Auf Kirchentagen kommen andere Verbindlichkeitsformen zur Geltung als in den Ortsgemeinden. Als mobile Kirche, evangelische Wallfahrt, Fest und Manifest oder Ausnahmezustand der Kirche setzt er auf punktuelles und verdichtetes Erleben, das durchaus Ergebnisse zu erzielen vermag. Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Inklusion und bürgerschaftliches Engagement bilden Eckpfeiler des Kirchentages als Bewegung und Großveranstaltung. Kirchentage erweisen sich so als Orte der Vertrauensbildung, die wesentlich zum Sozialkapital der gesamtdeutschen Gesellschaft beitragen.

 

Ökumene und interreligiöser Dialog

Seit 1961 gibt es auf Kirchentagen einen institutionalisierten Dialog von Juden und Christen. Diesem Vorbild folgen später auch andere interreligiöse Dialoge, allen voran das Gespräch mit dem Islam. Dieser Dialog findet z.B. in interreligiösen Bibelarbeiten Sprache.

Die Verbundenheit der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland findet 2003 beim ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin Gestalt, der vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sowie vom Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages gemeinsam verantwortet wird. Diesem sind jahrzehntelange Gespräche und ein erstes Ökumenisches Pfingsttreffen vom Deutschen Evangelischen Kirchentag und ZdK 1971 vorausgegangen. Ihm folgt der zweite Ökumenische Kirchentag 2010 in München, der bei gleicher organisatorischer Trägerschaft versucht, auch andere christliche Konfessionen in Deutschland wie z.B. Orthodoxe Kirchen und Freikirchen noch stärker am Ökumenischen Kirchentag-Geschehen in Planung und Durchführung zu beteiligen.

Als weitere Annäherung nach dem Reformationsjubiläum in 2017 wurde der 3. Ökumenische Kirchentag 2021 in einer weiter ausdifferenzierten multireligiösen Gesellschaft in Frankfurt geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie seit Frühjahr 2020 mehrfach umgeplant, fand dieser dann in veränderter Form statt, vor allem digital und dezentral.